German Press text by Conny Becker

In der Ausstellung Pain Fiction führt uns Alex Tennigkeit eine Palette an verletzten Körpern vor Augen, die sie in verschiedensten kunsthistorischen, popkulturellen und medialen Kontexten situiert. Alex Tennigkeit malt keine gefälligen Bilder, vielmehr Bilder, die Tabus brechen, Bilder, die man eigentlich nicht sehen wollte, welche die an unserer Zeitgeschichte interessierte Künstlerin aber nicht ausblenden kann, sich an ihnen abarbeiten muss.

So beispielsweise Bilder verwesender Soldaten im Russisch-Ukrainischen Krieg, die via Telegram geteilt wurden, was wiederum per World Wide Web auf den Computerbildschirm der Künstlerin landete. In ihren Miniaturen fügt Tennigkeit dem horrenden Ausgangsmaterial eine surreale Ebene in Form überdimensionierter Raupen hinzu. Diese detailgetreu gemalten, bunt gemusterten Larven überdecken das Grauen sowohl in der Komposition als auch auf metaphorischer Ebene. Denn sie stehen für die alles relativierende, da resiliente, sich ständig erneuernde Natur und für die Hoffnung, dass eine Transformation zum Schönen, Besseren möglich ist…

Eine Dichotomie von Mensch und Natur thematisiert Tennigkeit auch in der Serie der New Genre Paintings mit einem (männlich gelesenen) Menschen, der sich in Kultur und Wissenschaft über die Natur erhebt, sie beschreibt, analysiert, manipuliert und zerstört. Schwäche, Defizit, Tod gehören in unserer fortschrittsgläubigen Gesellschaft im Allgemeinen nicht in die Kategorie des Präsentierbaren. In der Arbeit Der Tote Baum entsorgen daher auch mit massiver Schutzkleidung ausgestattete Forensiker einen kranken und umgehend in Stücke zerlegten Baum, anstatt die Arbeit der Natur zu überlassen. Die Künstlerin führt uns dieses “effiziente Wegmoderieren alles Toten“ (A.T.) vor Augen, was in der Forstwirtschaft wie im menschlichen Miteinander diskutierbar ist.

Die zweite Arbeit der neuen Serie, L’Origine Du Phosphore, wurde von Harnschauen aus der niederländischen Genremalerei des 17. Jahrhunderts inspiriert, deren Ikonographie sich um Geheimnis und Wahrheitssuche gedreht haben soll, vor allem im Bezug auf den Frauenkörper. In Tennigkeits zeitgenössischer Variante scheint der Frauenkörper weiterhin voller Geheimnisse, naturgleich und gefährlich zu sein. So sind die vier urinierenden Frauen in einer Art Terrarium eingesperrt, die in ihrer Absurdität an die Panoramen im New Yorker Naturkundemuseum erinnern, in denen bis vor kurzem nicht nur verschiedene Tierarten, sondern auch einige Indianerstämme quasi nahtlos als Anschauungsobjekte präsentiert wurden. Als das „Andere“ (Simone de Beauvoir), als Objekt steht die Frau dem Mann, dem absolutem Subjekt, gegenüber. Insofern kann Tennigkeits Arbeit als eine Antwort auf den globalen Rollback in eine misogyne Richtung gesehen werden. Wer jedoch in ihrem „Geschlechterkampf“ gewinnt, bleibt offen, da die futuristischen Wucherungen im Hintergrund aus weißem, leuchtenden Phosphor bestehen, der durch Reduktion von Urin gewonnen und u.a. zur Herstellung von Granaten und Bomben verwendet werden kann.

In der großformatigen Arbeit The Animated Wall gönnt uns Alex Tennigkeit weder Ausblick noch Ausweg, denn das Bildmotiv ist eine Mauer und der Bildraum sehr begrenzt. Die titelgebende Wand besteht größtenteils aus einer Feldsteinmauer, die an ein uns von rechts einschließendes Backsteingebäude angrenzt. Im Zentrum des Bildes führt eine Steintreppe zu einem zugemauerten Eingang, der dennoch von einem schwarzen Wächterhund bewacht wird, uns BetrachterInnen herausfordernd anblickend. Hinter ihm beleben Mauersegler, Schlange oder Wespen die Mauer, jegliche Verweise auf Menschen bleiben jedoch Verweise: eine antike Skulptur, verschiedene Pixelskelette oder ein versteinertes Liebespaar aus Pompeji. Wir scheinen endgültig im Postantropozän angekommen. Aber immerhin können wir einer ‚humaneren‘ Natur als Humus dienen, wie auch das Abbild der einst von Lava eingeschlossenen menschlichen Körper in alchemistischer Bildtradition einen Baum des Weisen entwachsen lässt.

Alex Tennigkeit fiktionalisiert in diesem Ensemble von Arbeiten Themen, die konkrete, häufig schmerzvolle Realitätsbezüge aufweisen. Dies geschieht durch Übertreibung, Absurdität oder Humor, um nicht im Schmerz zu bleiben, sondern ihn produktiv zu nutzen. Pain —> Fiction